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Eine der großen zeitgenössischen Herausforderungen für die Architektur ist die Renovierung von Gebäuden aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die wärme technisch den heutigen Ansprüchen bei weitem nicht mehr entsprechen. Angesichts des Klimawandels und der damit verbundenen Notwendigkeit, den Kohlenstoffausstoß durch die Reduktion von Heizenergie zu drosseln, müssen Gebäude besser gedämmt werden. Dies war der Hauptgrund, warum ein Frühwerk von Jean Nouvel renoviert werden musste.
Das 1980 fertiggestellte Collège Anne Frank in Antony bei Paris ist ein Beton-Fertigteilbau, der nach dem von Le Corbusier entwickelten „Domino“-System errichtet wurde: ein Stahlbetonskelettbau aus vorfabrizierten Stützen-, Träger-, Decken- und in diesem Fall auch Fassadenelementen. Während die von Jean Nouvel gestaltete Struktur noch in einem guten Zustand war, musste die Fassade, bestehend aus Betonmodulen und einer Pfosten-Riegel-Verglasung mit zahlreichen Wärmebrücken, vollkommen erneuert werden. Wie mit einem solchen Bauwerk, das von einem berühmten, noch aktiven Architekten errichtet wurde (der den Umbau jedoch nicht selbst vornehmen wollte), umgegangen werden kann, zeigen MARS architectes. Sie haben teilweise bei Jean Nouvel gearbeitet und sind mit seinem Werk bestens vertraut.
Die Schwierigkeit lag darin, dass dieses Gebäude Manifest-Charakter hat. Es handelt sich um ein emblematisches Werk, das den Übergang von einer rationalen, modularen Konstruktionsweise zur symbolträchtigen Postmoderne markiert. Das Spezielle an diesem Bau ist die Überlappung dieser beiden Tendenzen, die Nouvel bewusst in ein Spannungsfeld setzte, wobei auch Humor nicht fehlt: In Zusammenarbeit mit dem Künstler Pierre-Martin Jacot flossen dekorative Elemente in die nach streng rationalistischen Prinzipien der klassischen Komposition aufgebaute Schule – ein Rasterbau mit zentralem Portikus und symmetrischen Seitenflügeln – mit ein. So hängen von der Betonrasterdecke Säulenfragmente herab, runde Kannelur-Stuckelemente umringen scheibenweise quadratische Betonstützen; Skulpturen betonen räumliche Achsen, Stuckzierleisten dekorieren auf unorthodoxe Weise die Betonquaderwände und dienen als Kabelträger, Rosetten zieren funktionalistische Lampen und Keramiktürschnallen erinnern an längst vergangene Epochen.
Nouvel und Jacot wollten auf diese Art „völlig losgelöste Störelemente einführen, die sich auf andere Architekturen beziehen“, wie Nouvel es damals beschrieb. Schließlich war 1980 auch das Jahr der von Paolo Portoghesi kuratierten Biennale in Venedig, bei der die sogenannte Strada Novissima als Manifest der Postmoderne zu besichtigen war. Der von Hans Hollein errichtete klassische Portikus, bei dem eine der Säulen als angebrochenes Fragment über dem Boden schwebt, fand in der gleichzeitig errichteten Schule Widerhall, nur ist in dieser der Kontrast zur rationalistischen Struktur bestimmend. Während der Postmodernismus damals für viele ArchitektInnen einen befreienden Neubeginn bedeutete, um sich vom Funktionalismus zu lösen, der ihrer Wahrnehmung nach wesentliche Dimensionen der Architektur übergangen hatte, machte Jean Nouvel diese historischen Zitate mit einem kritischen, amüsierten Augenzwinkern, er schlug schließlich ganz andere Wege ein...
Sie möchten weiterlesen? Dieser Beitrag ist Teil unserer Ausgabe 1-2/2024. Der Volltext ist ab Seite 90 zu finden.
Das Collège Anne Frank in Bildern: